Neulich entdeckten wir inmitten eines Stapels ausgemisteter Bücher der Bücherei Weisselbad für die Bücherzelle am Schlingermarkt etwas ganz Besonderes: Das Buch „Ich nehm´ die Blüten und die Stengel…“ erzählt die bewegte Lebensgeschichte von Agnes Pohanka, einer ehemaligen Marktfahrerin vom Schlingermarkt. Bis in die 1980er Jahre verkaufte sie am Bauernmarkt selbstgepflückte Kräuter, Blumen, Beeren und Schwammerl, die sie großteils in Niederösterreich, manchmal sogar weiter weg erntete. Die Kräuter trocknete sie auf einem Dachboden und brachte sie jede Woche auf den Schlingermarkt.
„Auf dem Schlingermarkt war ich schon mit meiner Mutter und hab ihr beim Verkaufen geholfen. Damals hat sie gehabt Heidelbeeren und so Sachen. Da hab ich ihr ausgeholfen, wenn ich sonst keine Arbeit gehabt hab.“
Ob Huflattich, Brennessel, Goldrute, Salbei, Einbeere, Waldmeister, Eibisch oder Schöllkraut – Agnes Pohanka war ihreszeiten anerkannte Expertin für Kräuterheilkunde. Um ihr Wissen aufzubauen, besuchte sie einschlägige Kurse. Am Schlingermarkt nannte man sie „Kräuter-Agnes“ oder „Kräutermami“.
„Hier, auf dem Schlingermarkt, war nie eine andere Kräutlerin als meiner Mutter und mir.“
Für allerlei Geschwüre und Beschwerden hatte sie das richtige Rezept.
„Zu mir kommen oft neue Kunden und fragen: „Haben Sie einen guten Tee gegen Husten – einen Schleimlöser? Ich hab schon verschiedene Medikamente verschrieben bekommen, aber nichts hat geholfen. Jetzt sind Sie meine letzte Hoffnung!““
Sogar wegen Krebsleiden, Magengeschwüren, Cholesterin und Blutzucker suchten die Kund*innen Agnes Pohanka auf.
Frau Pohankas Geschichte ist ein spannender Ausflug auf den Schlingermarkt einer längst vergangenen Zeit. Ihre Erzählungen erstrecken sich von der Zeit, als der Schlingermarkt vom Floridsdorfer Spitz an seinen aktuellen Standort übersiedelte bis hinein in die 80er Jahre. Die erzählt von ihren Kund*innen, anderen Verkäufer*innen – etwa vom „Doppler“, der gerade vom Sohn übernommen wurde (Anm.: „Doppler“ war ein Gemüsestand, der bis in die 2010er-Jahre am Schlingermarkt existierte), oder vom Burgenländer, der seinen Stand neben ihrem hatte und gelegentlich für sie mitverkaufte, von Fasching am Schlingermarkt, als sich alle Standler*innen verkleideten, von der ordinären „Klofrau“ mit der sie stets Kaffee trank, vom Anstellen um Marktplätze, dem Ansuchen um einen Marktkeller, vom Zeitungsverkäufer, der jüdischen Stoffeverkäuferin, vom Fetzentandler und dem Teppichreiniger.
Aber sie erzählt auch über das schwierige Leben nach dem ersten Weltkrieg, von Arbeit, die nichts anderem als dem Überleben diente, von beengten Wohnverhältnissen in ihrer Wohnung im 20. Bezirk, langwierigen Reisen per Zug und zu Fuß in die Gegenden, wo sie Kräuter ernten konnte, vom Tod ihres Sohnes im 2. Weltkrieg, ihrer Schwester Hedi und ihrer Mutter, die sich Zeit ihres Lebens wünschte, einfach mal in einer Wiese unter einem Baum zu sitzen und zu rasten.
Damit noch mehr Leute diese spannende Geschichte lesen können, haben wir das Buch nicht in die Bücherzelle gestellt, sondern im GB*Stadtteilbüro behalten. Hier kannst du dir das Buch kostenlos ausborgen.
Erinnerst du dich vielleicht sogar selbst an Agnes Pohanka? Wir freuen uns auf deine Erzählungen! Komm gerne im GB*Stadtteilbüro vorbei oder schick uns eine Email an nord@gbstern.at!